KI-Professorin Yasmin Weiß

„Der einfachste Weg, sich in die Zukunft zu verlieben, ist sie zu gestalten"

Geschrieben von Elisabeth Hussendörfer, Freie Journalistin // Veröffentlicht am 14.08.2025

Yasmin Weiß gilt als Top-Expertin für digitale Bildung und erforscht, wie die KI unsere Arbeitswelt verändert. Wir haben mit der Professorin an der Technischen Hochschule Nürnberg, Multi-Aufsichtsrätin und Buchautorin über den Impact künstlicher Intelligenz auf die Zukunft der Arbeit gesprochen.

„Der einfachste Weg, sich in die Zukunft zu verlieben, ist sie zu gestalten“, sagt Yasmin Weiß. Das klingt positiv und macht Mut. Sind die Menschen hinsichtlich der Transformation zu negativ?

Fakt ist: Der Arbeitsmarkt verändert sich rapide. Laut Studien werden schon 2030 große Teile der Wissensarbeiter substantiell anders arbeiten als heute. Und die Veränderungen sind nicht nur qualitativer Natur: Der Arbeitsmarkt verändert sich auch in Bezug auf die Anzahl der Jobs. „Wir sehen, dass viele Fähigkeiten sukzessive entwertet werden“, gibt Weiß selbst zu bedenken. In vielen Bereichen läge das Automatisierungspotenzial bei 30 oder 40, in manchen sogar bei 90 Prozent. „Da ist es nur natürlich, wenn Mitarbeitende mit Angst reagieren.“

Aber?

Was der Diskussion in den Augen der KI-Professorin insgesamt zu wenig gesehen wird ist die Kraft der Gestaltung. Und zwar die eines jeden einzelnen. „Was wir da erleben, ist schließlich keine Tsunamiwelle, die über uns drüber rauscht und die alles, was wir bislang kannten, mitreißt.“ Diesen spannenden Gedankengang haben wir mit der Wissenschaftlerin im Interview weiter vertieft.

© Charlotte Starup Photography
Prof. Yasmin Weiß

Frau Professor Weiß, die KI-Transformation ist keine Tsunamiwelle, die alles Vertraute und Liebgewonnene mitreißt, sagen Sie. Was ist sie dann?

Wir haben einiges selbst in der Hand. Der, wenn Sie so wollen, Tsunami, passiert nicht einfach so.

Sondern?

Nun, es sind ja allein nicht die großen Tech-Konzerne, die die Veränderung in der Arbeitswelt auslösen. Es gibt sehr viel Gestaltungskompetenz in den Unternehmen selbst. Die Frage ist doch: Was automatisieren wir? Und was automatisieren wir bewusst nicht?

An was denken Sie hier konkret? 

Durch die Produktivitätsgewinne werden menschliche Kapazitäten freigespielt. Dadurch kann man die Anzahl an Mitarbeitern reduzieren. Aber man kann auch wertvolle Kapazitäten bewusst anders einsetzen.

Für was?

Für mehr Menschlichkeit in der Arbeit. Ich bin zutiefst vom Gedanken „Your customers will never love a company until the employees love it first” überzeugt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, dieses „love it first“ zu gestalten und zu stärken. Und das machen wir bestimmt nicht, in dem wir der Belegschaft Angst machen. In dem wir alles automatisieren, was automatisierbar ist. Sondern, in dem wir uns fragen: Wie schaffen wir es, eine Transformation der Arbeitswelt hinzubekommen, die natürlich Produktivitätsgewinne erzielt, aber zugleich den Menschen in den Fokus rückt. Im Wesentlichen geht es darum, dass wir uns deutlich mehr auf die Dinge konzentrieren, für die wir Menschen geschaffen sind.

Für was sind wir geschaffen?

Da denke ich zuallererst an so Dinge wie Zugewandtheit. Wertschätzung. Wärme. Vertrauen. Alles, was in den Bereich von tiefer zwischenmenschlicher Interaktion fällt, die positiv in Erinnerung bleibt.

Stichwort „natürlicher Produktivitätsgewinn“: Was entlastet Sie persönlich in Ihrem Arbeitsalltag?

KI-Assistenten und neuerdings auch KI-Agenten. Wenn ich jetzt in meinem Homeoffice sitze, sitze ich da nicht mehr alleine. Um mich gibt es 24/7 ein spezialisiertes und wirklich auch handverlesenes Team. Fleißige KI-Kollegen sozusagen, die für bestimmte Aufgaben auf virtuelle Helfer zugreifen. KI-Assistenten bekommen bestimmte definierte Aufgaben vor mir, meine KI-Agenten können im Rahmen von gesetzten Leitplanken auch autonom agieren und mich entlasten.

Wie genau? Erzählen Sie.

Meine KI-Assistenten bereiten Texte vor, übersetzen sie, erstellen Recherchen und Zusammenfassungen. Mein KI-Agent kann Einkäufe tätigen, nach Lücken in meinem Kalender suchen oder Emails beantworten. Bei Letzterem möchte ich aber immer noch persönlich das letzte Wort haben. In Summe nimmt mir mein KI-Team vieles ab, was viel Zeit kostet, aber wenig erfüllend ist… Ich realisiere inzwischen Effizienzgewinne von zwei bis drei Stunden pro Arbeitstag. Das hilft sehr bei der Vereinbarkeit meiner privaten und beruflichen Rollen. Das ist eine extrem positive individuelle Entwicklung, die ich hier sehe. 

Individuell – das betonen Sie? Weil das nur ein Ausschnitt ist?

Die Entwicklungsgeschwindigkeit, die wir da gerade erleben, bringt sicher nicht für jeden nur Gutes. Sehr viele Menschen nehmen wir nicht ausreichend mit. Darüber hinaus sehe ich große gesellschaftliche Probleme auf uns zurollen. Die Technologie entwickelt sich deutlich schneller als die Sensibilisierung und Qualifizierung der Bevölkerung. Mit den Potenzialen steigen im Moment auch die Risiken exponentiell.

Und darauf sind wir nicht vorbereitet?

So ist es. Unsere Gesellschaft und auch die Systeme kommen aktuell nicht mit. Das Bildungssystem, das Rechtssystem. Technologie überholt uns an allen Ecken und Enden, das muss man leider so sagen. Die digitale Schere geht immer weiter Also: Ein Teil der Bevölkerung profitiert massiv von der Entwicklung. Diejenigen, die sich vor die Welle gesetzt haben und nun mit „Siebmeilenstiefeln“ durch ihren beruflichen Alltag laufen. Aber wir haben Teile in der Bevölkerung, die ohnehin schon nicht vorne mitgeschwommen sind, was die Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten betrifft. Und die lassen wir gerade noch weiter zurück. Ein Problem ist, dass die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz für viele so etwas wie eine Black Box sind. Das führt dazu, dass wir als Menschen in der Breite der Bevölkerung zunehmend das Gefühl haben, wir verlieren die Kontrolle. Diese Gefahr ist durchaus real

… wenn wir nicht anfangen, mehr auf die - wie Sie sagen - „Gestaltungskompetenz“ zu schauen?

Das zum einen, genau. In Sachen Veränderungsbereitschaft kann es helfen, sich mal zu fragen: Ist der Status Quo der jetzigen Arbeitswelt wirklich so cool? Stichwort Rollenvereinbarkeit. Nicht zu vergessen: Viele Leistungsträger sind in der Überlastung. Ich sage immer: Lasst uns doch mal eine ganz positive Vision der Transformation entwickeln. Ein Bild, in dem das, was uns stört, deutlich besser gelöst wird. Daneben brauchen wir aber noch etwas anderes. Wir müssen uns auf Spielregeln einigen, auch auf globaler Ebene. Wir müssen uns fragen: Was ist der Aus-Knopf? Wann drücken wir ihn? Wie gehen wir als Weltgemeinschaft vor, wenn sich KI irgendwann nicht mehr in den Dienst von uns Menschen stellen sollte, sondern uns schadet. Diese Fragen sind noch nicht beantwortet.

Lassen Sie uns trotz aller Besorgnis noch einmal auf mögliche positive Impulse schauen und vielleicht die von Ihne beschriebene Blackbox etwas transparenter machen. Mögen Sie uns ein wenig mehr über Ihre persönliche KI-Strategie verraten?

Für mich ist zentral, dass ich mir erst einmal bewusstmache, was ich mit den Techniken überhaupt erreichen will.

Sie haben eben den Punkt „Effizienzgewinn“ angesprochen. Drei Stunden Zeitgewinn pro Tag sind eine Menge. Darf man fragen, was Sie mit der hinzugewonnenen Zeit machen?

Eine Stunde investiere ich in mehr Output – ich leiste also mehr, das ist mein erstes Ziel. Eine weitere Stunde investiere ich in tägliches Lernen. Eben, um mich vor die Welle zu setzen und mit der ganzen Veränderungsgeschwindigkeit mithalten zu können – das ist mein zweites Ziel. Und die dritte Stunde investiere ich für die – wie ich es nenne – Menschen, die mir die Welt bedeuten. Meine Familie, meine Freunde. Auch Netzwerkpflege fällt in diesen Bereich. Das ist mein drittes Ziel. Sagen wir vielleicht zusammengefasst: Ich investiere diese Stunde in Menschlichkeit. Sehen Sie, das meine ich, wenn ich sage, wir sollten uns unsere Ziele bewusst machen. Ich könnte die drei gewonnenen Stunden auch in mehr Produktivität investieren. So wie das im unternehmerischen Kontext gerne geschieht.

Aber?

Die Frage ist doch: Was will man? So wie ein Unternehmen Unternehmenswerte hat, habe ich als Individuum meine ganz persönlichen Werte. Und diese Werte sind in meinem Fall weitaus mehr als zu sagen: „Ich möchte erfolgreich sein“. Meinen obersten Wert habe ich Ihnen gerade genannt.

Die Menschlichkeit?

Genau. Ich fände es fatal, die gewonnene Zeit nicht zu einem entsprechenden Teil in meinen obersten Wert zu investieren. Und wissen Sie was: ehrlich gesagt gewinnt man genau damit die Herzen der Mitarbeitenden.

Was meinen Sie?

Jedes Transformationsprojekt im Unternehmen – und die KI-Transformation ist unstrittig die größte Kraft - erfordert es, die Belegschaft mitzunehmen. Ich muss die Menschen nicht nur in den Köpfen überzeugen. Sondern auch tief drinnen. Die Köpfe kann ich relativ leicht überzeugen, wenn ich sage: Wir müssen als Hochlohnland Deutschland international wettbewerbsfähig bleiben und effizienter arbeiten. Das werden die Menschen total verstehen. Aber die Herzen, die ich brauche, damit jemand intrinsisch motiviert ist und möglicherweise bereit dazu, schon morgen eine neue Rolle zu spielen, die bekomme ich so nicht. Genau darum geht es. Dass ich intrinsisch motiviert bin, mich weiterzuentwickeln. Vielleicht sogar in meiner Freizeit.

Wie schaffe ich es, intrinsisch motiviert zu sein?

Indem ich von meinem Vorgesetzten beispielsweise so Dinge höre wie: Du hast einerseits die Chance, zu unserem übergeordneten Ziel, der Wettbewerbsfähigkeit, beizutragen. Und gleichzeitig hast du die Chance auf eine deutlich bessere Vereinbarkeit deiner beruflichen und privaten Rollen. Ich bin überzeugt: Das bewirkt was. Übrigens, ein Punkt wird in der Weiterbildungsdiskussion gerne vergessen. Es geht nicht nur ums Lernen. Auch das Verlernen ist wichtig.

Was gilt es zu „verlernen“?

Gewohnte Denk- und Verhaltensweisen. Von diesen loszulassen, kostet Überwindung! Es fällt schwer, die eigene Hand in bestimmten Situationen vom Steuer zu lassen.

Sinnbildlich?

Durchaus auch ganz konkret. Schauen Sie, ich fahre einen neuen BMW. Der hat eine ziemlich praktische Funktion „autonomes Einparken“. Anfangs fiel es mir schwer, diese Funktion zu nutzen. Ich habe die Hände nicht vom Steuer wegbekommen. Dabei kommt der BMW wirklich in jede Parklücke rein, wenn sie groß genug ist. Ich musste bewusst „verlernen“, beim Einparken selber lenken zu wollen.

Wie sieht es mit der Kontrolle aus?

Die bleibt bei uns Menschen. Ich habe auch bei meinem BMW die Möglichkeit, zu bremsen, wenn ich das Gefühl habe, das passt für mich nicht.

Zurück zu Ihrer KI-Strategie. Welche Tools nutzen Sie? 

Einige. Nehmen wir als Beispiel NotebookLM aus dem Hause Google, eines meiner Lieblingstools. Das ist wahnsinnig hilfreich für persönliches Wissensmanagement. Ich könnte zum Beispiel fragen „wie verändert die KI bestimmte Job- und Anforderungsprofile bis 2030?“ Alles, was ich dazu an relevanten Studien oder Veröffentlichungen für lesenswert erachte, lade ich in meinem Notebook hoch. Auch eigene Ideen oder Gedanken, die ich von Konferenzen mitnehmen und natürlich eigene Publikationen. Dann lasse ich mir ein Executive Summary erstellen. Oder eine Mindmap für meine eigenen Publikationen. Oder ich lasse mir einen individualisierten Podcast erstellen und höre ihn auf dem Weg zum Flughafen. Wenn ich mag, kann ich hier auch in den Austausch gehen. Ich chatte dann sozusagen mit meinem eigenen Datenpool, für ganz spezifische Fragen. Etwa: Wie sieht die Situation bis 2035 aus? Oder auch: Was ist für diese oder jene Berufsgruppe genau an Veränderung zu erwarten? Übrigens: Seit Anfang Juli stelle ich sorgfältig kuratierte Notebooks zur Zukunft der Arbeit mit KI auch öffentlich.

Das heißt? 

Es sind die inzwischen am häufigsten genutzten Notebooks im deutschsprachigen Raum, ich nenne sie „Talking Textbooks“. Google kann tracken, wie intensiv sie genutzt werden. Und das sagt sehr viel über die Zukunft der Weiterbildung, des Lernens aus, finde ich. Das große Notebook heißt „Zukunft der Arbeit“ und jeder, der will, hat Zugriff darauf. Der Datenpool ist aus meiner Sicht höchst relevant. Von mir persönlich kuratiert und sehr aktuell gehalten. Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz chatten damit und lernen, mit KI zu lernen. 

Wie tun sie das genau?

Indem sie beispielsweise dem Talking Textbook sagen, was ihre berufliche Rolle ist dann fragen, wie die KI diesen Bereich verändern wird. Und auch, welche Skills sie lernen sollten, damit sie ihren am Arbeitsmarkt der Zukunft relevant bleiben. Die Leute arbeiten sehr unterschiedlich mit dem Notebook. Der eine macht sich vielleicht gerne einen Podcast daraus. Ein anderer mag lieber mit der KI im Dialog sein. Ein Dritter möchte sich eine Zusammenfassung erstellen lassen — aber eben ganz spezifisch, zu eigenen Fragen. Der vierte wünscht sich möglicherweise eine Mindmap. Wie möchte ich lernen? Das finde ich eine zentrale Frage. Und damit sind wir wieder bei der Gestaltungkompetenz. Generell sehe ich hier eine geteilte Verantwortung von Arbeitgebern und Mitarbeitenden. Insbesondere im Bereich des lebenslangen Lernens tragen wir aber eine hohe Eigenverantwortung, jeder einzelne. Wir sollten eine deutliche proaktivere Haltung bei der Gestaltung der Arbeitswelt mit KI einnehmen, davon bin ich überzeugt.

 

Disclaimer
Um auf die "Talking Textbook" zugreifen zu können, ist ein Google-Konto erforderlich. Es handelt sich hierbei nicht um einen Service oder Inhalte des Fraunhofer IAO. Alle Rechte liegen bei Frau Prof. Dr. Yasmin Weiß.