Herr Boos, hat die Arbeitswelt mit KI das Potenzial, besser zu werden?
Davon bin ich überzeugt, allerdings müssen wir die KI so einsetzen, dass sie uns etwas bringt.
Wie meinen Sie das?
So wie KI heute eingesetzt wird, bringt sie oft gar nichts. Wir sind zum Beispiel dabei, die Callcenter abzuschaffen. Ich prophezeie: Wenn wir uns fünf Jahre lang mit diesen dämlichen Computerstimmen unterhalten haben beziehungsweise versucht haben, uns mit ihnen zu unterhalten, sind wir wieder da, wo wir längst waren, und drücken die Eins.
Damit sprechen Sie wahrscheinlich vielen Menschen aus der Seele. All jenen, die sinngemäß sagen: Das ist ja schrecklich, wenn die Maschinen plötzlich besser sein sollen als wir…
Moment. Vieles können die Maschinen ja tatsächlich sehr viel besser. Ich sage es mal so: Wer möchte schon von Beruf Kran sein? Und die Maschine, die einen Sachbearbeiter ersetzt, ist im Grunde nichts anderes als eine Maschine, die einen ersetzt, der Steine schleppt.
Schwingt da ein Aber mit?
Was Maschinen definitiv besser können als wir, ist Komplexität zu beherrschen. Maschinen haben kein Komplexitätslimit. Was sie hingegen gar nicht können, sind Kausalitäten.
Da sind wir Menschen besser, meinen Sie?
Wir Menschen sind Kausalitätsprozessoren. Warum ist etwa so oder so? Darin sind wir gut. Wenn es etwas gibt, worüber wir uns in diesen Tagen dringend mehr unterhalten sollten, dann ist es Erkenntnis. Die Frage, wie Erkenntnisgewinnung funktioniert, ist zentral – gerade im Hinblick auf unseren Umgang mit KI und mögliche sogenannte Weiterbildungsszenarien.
Aber geht das jetzt nicht stark in den Bereich des Philosophischen und weniger in Richtung Informatik, Tech Trends oder Data Science?
So ist es und genau so sollte es auch sein. Ich meine: Wir müssen viel grundsätzlicher, viel prinzipieller über KI nachdenken. Schauen wir uns an, wo Künstliche Intelligenz wirklich helfen kann.
Und wo nicht?
Ganz genau. KI kann künftig zum Beispiel den ganzen Standardkram erledigen, der in der Vergangenheit wenn man mal ehrlich ist nur genervt hat. Es macht keinen Sinn, am Steineschleppen festhalten zu wollen. Schauen wir lieber auf das, was in Zukunft wichtiger wird. Kritisches Denken, Kreativität, Empathie. Alles, was von Mensch zu Mensch geschieht. Hier sind wir gefragt wie nie zuvor.
Wo genau?
Individueller Service wird zum Beispiel sehr viel wichtiger werden. Oder auch, dass wir zu Lehrern der Maschine werden. Hätten wir all das Wissen aller Bergleute in Deutschland speichern können, dann hätten wir heute eine Maschine, die aus einem Asteroiden Rohstoffe extrahieren könnte und müssten das nicht wieder von vorne gelernt werden. 1969 haben wir Menschen zum Mond geschickt und sicher zurückgebracht. Jetzt haben wir viel vergessen und in 2024 erst mal mehrere Mondmissionen vergeigt. Das wäre uns mit einer Partnerschaft von Mensch und Maschine nicht passiert. Nutzen wir die Chance, die sich auftut. Feiern wir die Möglichkeiten – aber bleiben wir bei all dem bitte kritisch. Vieles, was sich erstmal toll anhört, ist es vielleicht gar nicht.
An was denken Sie?
An berufliche Fachrichtungen wie Innovationsmanagement etwa. Wer das hört, denkt vielleicht: Super. Das brauche ich auch.
Ein Irrtum?
Zumindest glaube ich, dass hier gerne etwas missverstanden wird. Als gäbe es einen Hebel, den man umlegen muss und schon hat man Innovation. Die Realität ist eine andere. Innovation ist zumindest zu einem gewissen Teil immer auch Zufall. Und oft lange, harte Arbeit. Zuweilen spielt auch Versagen eine Rolle. Was ganz sicher immer eine Rolle spielt, ist Offenheit, Neugierde. Auch: Die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen. Statistisch gesehen hatte Galilei nicht recht. Mit seiner Einzelmeinung. Alles, alle verfügbare Literatur sprach dagegen, dass die Erde nicht im Zentrum steht. Aber Galilei war hartnäckig…
Eine KI hätte ihm also nicht geholfen?
Wenn überhaupt, dann vielleicht bei einzelnen Planungsprozessen. Dort, wo wir KI als User Interface einsetzen, wo wir sich ähnelnde, oft stupide und trotzdem nicht gut standardisierbare Tätigkeiten abgenommen bekommen, ist sie ein prima Hilfsmittel. KI als Wissensquelle zu nutzen, ist dagegen Blödsinn. Gallilei wäre so nie zum Ziel gekommen. Es ist doch pervers, dass es mittlerweile Berufsbilder wie den „Prompt Ingenieur“ gibt. Also jemand, der die Maschine Sachen so fragt und die Frage so formulieren lernt, dass er genau die Antwort bekommt, die er haben möchte. Wir passen die Menschliche Sprache so an, dass eine Maschine wie gewünscht antwortet und schließen dann daraus, dass sie das immer tut, Hallo?
Fassen wir zusammen: Als Problemlöser kann der Einsatz von KI sehr sinnvoll sein. Also überall da, wo ein ähnliches Problem immer wieder auftaucht. Aber wo es um Neues geht, um Innovation, taugt sie nichts?
Genau. Ich sage mal so: Wäre Henry Ford eine KI gewesen, hätten wir heute eine bessere Pferdezucht.
Und vielleicht keine Massenproduktion von Autos. Genau die hat Ford 1913 bekanntlich eingeführt. Damit hat er nicht weniger als die Automobilindustrie revolutioniert.
Die Sache ist die: Maschinen und Gehirne haben nicht viel miteinander zu tun. Und wenn doch, dann sind Maschinen kleine dumme Anfänger. Den hundert Milliarden Neuronen, die wir bei unserer Geburt mitbekommen, stehen bei einem großen neuronalen Netzwerk wenige Millionen Knoten gegenüber. Man braucht ein ganzes Atomkraftwerk, um so ein Ding zu betreiben. Deswegen ist es ja auch so teuer, KI-Modelle zu trainieren.
Die aber, wie Sie eben selbst sagten, in Sachen Komplexität unschlagbar sind.
Ja, aber Komplexität ist nicht Intelligenz. Intelligenz setzt einen inneren Monolog voraus. Das, was ständig in uns Menschen abläuft. Mal mehr, mal weniger bewusst. Dieses Abwägen von Kausalketten. Oder wenn man so will, das innere Streiten. So oder so, je natürlicher, je selbstverständlicher der innere Dialog, desto intelligenter ist ein Mensch. Wer dagegen ausschließlich in bekannten Mustern denkt und lediglich auf Dinge zurückgreift, die in alten Systemen abgebildet sind, dringt kaum dahin vor, wo es spannend wird. Was passiert, wenn Menschen aufhören, sich mit Erkenntnis zu beschäftigen, wissen wir.
Was denn?
Zahlreiche Hochkulturen sind genau daran zugrunde gegangen. Wobei es umgekehrt auch schädlich ist, sich nur noch mit Erkenntnisgewinn zu beschäftigen. Nehmen Sie die Mayas. Die hatten, salopp gesagt, vor lauter Sternegucken irgendwann kein Getreide mehr.
Halten wir fest: Bildung ist wichtig, sogar überlebenswichtig.
Das gilt ganz besonders für uns in Europa. Wie heißt es so schön? Bildung ist unser wichtigster Rohstoff. Wir haben schlichtweg keinen anderen.
Vor diesem Hintergrund muss die ein oder andere Erhebung nachdenklich machen. Laut einer Studie des Branchenverbands Bitkom vom vergangenen November beschränken 28 Prozent aller Unternehmen ihre KI-Fortbildungen auf ausgewählte Beschäftigte. 48 Prozent bieten ihren Beschäftigten gar keine Aus- und Weiterbildung in punkto Nutzung von künstlicher Intelligenz an. Dabei geben 61 Prozent aller Erwerbstätigen an, dass sie sich gerne zu KI fortbilden würden. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Ich halte das für völlig irrelevant. ChatGPT ist heute etwas komplett anderes als noch vor einem Jahr. Will sagen: Bis jemand mit der Fortbildung durch ist, ist das Ganze schon wieder veraltet.
Wollen Sie damit sagen, KI-Weiterbildungen bringen nichts?
Nicht in der konkreten Form, die Sie wahrscheinlich meinen. Schauen Sie, zu meiner Zeit hatte man während der ersten vier Semester im Informatikstudium noch überhaupt keinen Zugang zum Computer. Da ging es erst mal darum, zu verstehen, wie Computer funktionieren. Heute bringt man den Studenten ab dem ersten Semester Programmieren bei. Aber was ist, wenn sie morgen gar nicht mehr programmieren müssen?
Wenn konkrete KI-Weiterbildungen wenig bringen, was bräuchten die Unternehmen dann?
Strategien, die der Mitarbeiterschaft dabei helfen, über die Zukunft nachzudenken. Und auch dabei, den eigenen Umgang mit Veränderungen zu hinterfragen. Wo der menschliche Anteil der Arbeit an Produktivität – also das, wofür wir alle bezahlt werden – in einem Unternehmen wie bei Volkswagen seit 1947 kontinuierlich zurückgeht, müssen wir das tun. Wer will schon im Museum leben? Spätestens in diesen Tagen sollte jedem klar sein, was eigentlich längst absehbar war.
Was meinen Sie?
Schon mit der Industrialisierung haben wir knapp 30 Prozent Automatisierung erreicht – wohlgemerkt, in 150 Jahren. Mit der Digitalisierung wird sich dieser Wert in Kürze weiter erhöhen, auf vielleicht 50, 60 oder sogar 80 Prozent. Die Veränderungsgeschwindigkeit, die wir da gerade erleben, hätte sich keiner unserer Vorfahren je vorstellen können, und den allermeisten von uns dürfte es weiterhin ähnlich gehen. Fakt ist aber: „Alles soll so bleiben, wie es ist?“ Das können Sie einfach mal vergessen!
Haben Sie denn den Eindruck, dass diese Haltung in den Unternehmen verbreitet ist?
Jein. Nehmen wir zum Beispiel das automatisierte Fahren. Ich bin sicher, die Führung der Konzerne weiß, was Sache ist und was eigentlich passieren müsste. Jeder Vorstand bei Daimler das verstanden.
Was?
Dass wir im Moment Fahrzeuge produzieren, die nur 2 Prozent ihrer Lebenszeit genutzt werden und die meiste Zeit nur herumstehen. Und dass die Beschreibung von Mobilität über eine andere Kennzahl als zugelassene Neuwagen sehr viel effektiver wäre. Selbst Pessimisten sagen, dass die Nutzung von Fahrzeugen durch Sharing-Modelle locker auf 30 Prozent gesteigert werden könnte. Auf Knopfdruck könnte innerhalb von 8 Minuten überall in Deutschland ein Auto vorfahren. Man stelle sich das mal vor: Die gefahrenen Kilometer pro Fahrzeug ließen sich so um den Faktor 15 erhöhen. Das heißt auch: Für den derzeitigen Bedarf bräuchten wir künftig 15 Mal weniger Autos. Davon würden die Menschen zweifellos profitieren. Bleibt die Frage, wie Unternehmen wie Daimler, Bosch oder Mahle mit dieser Entwicklung umgehen könnten. Derzeit bemisst sich deren Erfolg an der Zahl der verkauften Autos. Künftig wäre eine Kennzahl wie die Zahl der gefahrenen Kilometer ein besserer Ansatz, aber das würde natürlich tiefgreifende Veränderungen in den Geschäftsmodellen der Unternehmen bedeuten.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Ich fürchte, da habe ich so ad-hoc keine zufriedenstellende Antwort parat. Ich weiß aber sicher, dass unser System, das ja lange gut war, so nicht mehr funktionieren wird. Dass es jetzt darum geht, die Möglichkeiten zu verbreitern, eben das zu tun, wofür Menschen wirklich gedacht sind. Und genau hier sollte das Thema Weiterbildung ansetzen. Was brauchen wir denn, wenn der Service von Mensch zu Mensch wieder wichtiger wird?
Sagen Sie!
Man muss nett sein, muss Menschen mögen. Jeder will den Tante-Emma-Laden. Keiner will in der Schlange stehen, während Tante Emma nett zu jemand anderem ist. Ich glaube tatsächlich, hier haben wir im Moment so einiges an Lernbedarf. In zwei Dingen bin ich mir jedenfalls sicher. Erstens: Die besten Weichenstellungen werden weiterhin nicht out of the box kommen. Und zweitens: Je mehr Menschen sich Gedanken machen, desto höher sind die Chancen auf gute Ergebnisse.
Der berühmte „Think Tank“?
Der wird oder sollte an Bedeutung gewinnen. Schauen Sie, ich selbst bin ein Mensch mit einem relativ hohen IQ. Aber jede durchschnittliche Gruppe kann mich jederzeit beim Lösen von Problemen schlagen. Ganz einfach, weil die Gruppe immer besser ist.
Ist das nicht ein Argument für das Nutzen künstlicher Intelligenz? Im Grunde geht es hier ja wie bei einer Gruppe um das Zusammenführen von Informationen, oder nicht?
Wie man´s nimmt. Wie gesagt, gerade soziale, kreative und individuelle Skills werden künftig immer wichtiger werden. All das kann keine KI. Wie heißt es doch gleich? „A fool with a tool is still a fool“. Kein Werkzeug der Welt besitzt die Intelligenz, über die Zukunft nachzudenken. Oder auch: Freude an der Erkenntnisgewinnung. Unterschätzen wir nicht den Spaß am Gestalten. Das, was passiert, wenn die Neugierde größer ist als die Angst. Was uns bei der Überwindung von Barrieren oft hilft, ist der Diskurs. Die intensive Auseinandersetzung mit den Sichtweisen anderer.
Sollte das nicht ohnehin Teil einer guten Unternehmenskultur sein? Und damit auch Teil jeder Weiterbildungsstrategie?
Es ist definitiv ein Verlust, wenn das Feierabendbier mit den Kollegen oder die teambildende Maßnahme wie zuletzt immer öfter „aus Gründen“ ausbleibt. Aber auch hier sehe ich nicht unbedingt die Unternehmen in der Pflicht. Deren Aufgabe ist eher eine andere.
Nämlich?
Keine Frage, die Unternehmen müssen in Bildung investieren. Jedoch nicht in die Art Bildung, wie wir sie bisher kennen. Nicht nur die Mitarbeitenden sollten durch Bildungsangebote angesprochen werden, auch deren Familien. Und noch besser: Das ganze Umfeld. Die Gemeinde, die Stadt. Drei öffentliche Vorträge pro Jahr, sowas wäre zum Beispiel ein Anfang.
Und damit wäre genug getan, damit der einzelne Mitarbeitende beim Thema künstliche Intelligenz auf dem Laufenden bleibt? Müsste er da nicht je nach Tätigkeitsfeld tiefer reingehen?
Doch, das sollte er und das ein oder andere Angebot seitens der Firma ist sicher auch kein Fehler. So wie es am Ende des Tages sicher auch Sinn macht, ein paar IT-Fuzzys zu finden, die in den Seniorentreff gehen. Generell würde ich mir hier aber nicht zu viel erwarten.
Bei den Firmen?
Ja. Nicht zuletzt, weil wir aus besagten Gründen nicht davon ausgehen können, dass es die Organisationen sind, die Veränderungen wirklich wollen. Leider haben wir zu viele Top-Führungskräfte, die Dinge mitmachen, von denen sie wissen, dass sie falsch sind, weil es einfacher und sehr kurzfristig gesehen weniger risikoträchtig ist. Das langfristige Risiko steigt dabei aber dramatisch und das können wir ja gerade in der deutschen Wirtschaft gut sehen.
Stichwort Eigeninitiative: Jemand, der noch nie was mit KI gemacht hat, tut sich mit Weiterbildungsmaßnahmen auf eigene Faust möglicherweise schwer. Was raten Sie?
So banal es klingt: Einfach machen. Ausprobieren, Erfahrungen sammeln. Es gibt wirklich genug Angebote, da ist für jeden was dabei. Wie wär’s zum Beispiel mal mit ein bisschen Mathe?
Da wird der ein oder andere jetzt wohl eher dankend abwinken.
Das ist ein Problem, und zwar ein gesellschaftliches. Du kannst dich heute in jede Talkshow setzen und sagen, Mathe konnte ich noch nie. Das ist salonfähig, fast schon sympathisch. Aber wenn jemand sagen würde ‚Goethe – nie gehört‘ wäre das ein absolutes NoGo.
Braucht es hier in Zeiten von KI ein Umdenken?
Absolut. Ich persönlich empfehle zum Beispiel gerne die Kurse des UnternehmerTUMs (https://www.unternehmertum.de/angebot/applied-ai) oder der Technischen Uni München (Zum Beispiel https://knowledgehub.edu.sot.tum.de/ki-lehren-lernen/). Auch brilliant.org bietet richtig gute Trainings an. Meine beiden Töchter, 12 und 14, machen das gerade.
Weil Sie einen Papa haben, der im Thema drin ist?
Für diesen konkreten Fall mag das zutreffen.
Und sonst?
Schauen Sie, es wird immer gesagt, dass die Lehrer auf dem neuesten Stand der Technik sein sollten. Das ist doch Blödsinn. Der Lehrer kennt sich immer mit der Technik einer Generation vorher aus – irgendein Schüler weiß längst, wie es jetzt geht. Ich brauch meinen Kindern doch nicht zu erklären, wie das Tablet funktioniert. Das erklären die mir. Ich mache mir Sorgen, dass mich Instagram verblödet? Meine 14-jährige Tochter sagt mir „schau hier stellst du die Limits ein… das mache ich schon lange, sonst komme ich da gar nicht mehr weg“. Solche Situationen haben wir in allen Kontexten immer wieder. Und du stehst da und denkst dir einfach nur „wow“.